Einführungsrede anlässlich der Ausstellung ODD ONE OUT in der Galerie GEYSO 20
Dr. Wolfram Voigtländer
Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kunstfreund*innen,
der Sammler Torsten Uhde zeigt in der Galerie Geyso 20 der Öffentlichkeit zum ersten Mal einen Teil dessen, was er in den letzten Jahrzehnten zuhause und in seinem Büro an Kunst zusammen getragen hat. Er sammelt, was ihm gefällt, und das, wie Sie gleich sehen werden, mit exzellentem Geschmack und sicherem ästhetischen Urteil.
Torsten Uhde hat vor und neben seinem Grafik-Design-Studium in Braunschweig auch Kunst studiert bei den Professoren Johannes Brus, HP (Hans Peter) Zimmer, Blalla Hallmann und Walter Dahn. Diese hatten alle keinen engen akademischen Blick, sondern brachten den Studenten ein weites Verständnis von Kunst bei, das ganz selbstverständlich Volkskunst, Außenseiterkunst und außereuropäische Kunst einschloss, da es sie selbst fasziniert und beeinflusst hatte. Auch Subkulturen wie die Street-Art wurden damals schon von den Studenten rezipiert.
So wurde und wird die Sammlung Uhdes nicht nur durch seinen subjektiven Geschmack geprägt, sondern auch von seiner Biografie, von seinen Lehrern an der Hochschule, von seinen Künstler-Freunden, hier vor allem durch Christof Mascher, und natürlich auch vom Zeitgeist. Aber der durchweht ihn ganz frei, es gibt keine Moden, keine Grenzen, Artefakte aus allen Kontinenten sind vertreten, es gibt keine hohe Kunst, keine niedere, keinen Kolonial-Blick, alles ist authentisch, ist mit Dringlichkeit hergestellt, keine Spielerei, keine l’art pour l’art; keine Insider-Kunst, keine Outsider-Kunst, alles wird in seinem Blick, in seinem Begehren umfasst von der einen großen Mutter Kunst. Mit Bezug auf den Ausstellungstitel möchte man sagen: Hier fällt keiner aus der Reihe, hier gehören alle dazu? Oder vielleicht fallen hier ja auch alle aus der Reihe?
Was die künstlerischen Techniken und das Material angeht, ist in der Sammlung fast alles vertreten: vom Ölbild über Kugelschreiberzeichnung bis zum Digitaldruck, Sie finden Arbeiten in sämtlichen grafischen Techniken, und beim Material für Skulpturen und Assemblagen sind ohnehin keine Grenzen gesetzt, Fundstücke jeglicher Art werden verwendet bis hin zu Teilen von Wellblechhütten. Und die Künstler waren nicht immer Künstler, sondern darunter auch anonyme Schnitzer von Kultfiguren oder Maler von Reklametafeln. Oder die Künstler verstanden sich nicht als Künstler, sondern als Erfinder, Handwerker oder ähnliches. Aber der Blick des Sammlers machte alles zur Kunst, und unser Blick darauf heute bestätigt seine Entscheidung.
Bei einem Rundgang durch die Ausstellung sind drei Schwerpunkte der Sammlung schnell auszumachen: Moderne und zeitgenössische europäisch-westliche Kunst nach 1945, Kunst aus Afrika und Außenseiterkunst aus der ganzen Welt - Schwerpunkte, die sich im Laufe der Sammeltätigkeit von Herrn Uhde herausgebildet haben. Sie waren nicht Ausgangspunkt oder Ziel seines Sammelns. Sein Antrieb war viel mehr die Freude am Entdecken von Neuem in der Welt der Kunst, von Unerhörtem, von Ungesehenem, was ihn dann auch in die Randgebiete der Kunst führte, in die Außenseiterkunst oder Art Brut oder Outsider Art. Aber auch hier ging es ihm nicht um das Randständige und Außergewöhnliche an sich, sondern um die spezifische Qualität, die er in diesen Werken fand; die Qualität war und blieb der einzige Maßstab für die Aufnahme eines Werkes in seine Sammlung.
Wie werden die Werke in der Galerie Geyso 20 gezeigt? Sie werden nicht nach diesen Schwerpunkten geordnet, nicht nach ihrer geographischen Herkunft, nicht nach Kunstrichtung, nicht nach Technik. So spontan wie die Sammlung entstanden ist, so klar hat der Blick des Sammlers die Werke für die Ausstellung zu Themen geordnet. Und das sind die großen Menschheitsthemen, die hier wie in jeder großen Kunst behandelt werden: Wer bin ich (der Blick in den Spiegel, Portrait)? Woher komme ich? Wohin gehe ich? Was ist der Sinn des Lebens, Geschlecht und Eros, Tod, Religion, Macht, Angst und Schutz.
Die vielen Exponate stehen und hängen und liegen eng neben- und übereinander, sozusagen in Petersburger Hängung. Der Sammler will alles zeigen, er hat so viel zu erzählen; er will Zusammenhänge herstellen und sie uns vorführen; er will uns an seiner Begeisterung teilhaben lassen und uns vielleicht auch mit seiner Sammelleidenschaft anstecken.
Wer solch Authentisches vom Sammler hören will, kann dies sicher nachher von ihm selbst erfahren, er kann aber auch zu einem der Termine im Lauf der Ausstellung kommen, die als Gespräch mit dem Sammler angeboten werden.
Wie passen Sammlung und Ort zueinander? Torsten Uhde zeigt seine Sammlung nicht zufällig in der Galerie Geyso 20. Dies ist ein besonderer Ort, an dem besondere Kunst hergestellt und ausgestellt wird. Sammler und Atelier, Herr Uhde und Frau Roskamp, haben nach einer längeren Phase der Zusammenarbeit diesen weiteren Schritt zur Inklusion getan und stellen ganz selbstverständlich diese umfassende Weltkunstausstellung in den Räumen von Geyso 20 aus. Hoffentlich finden neben den Freund*innen Torsten Uhdes und den Freund*innen von Geyso 20 viele weitere Braunschweiger den Weg hierher, es lohnt sich doppelt, Atelier und Ausstellung ergänzen sich nicht nur, sondern regen sich gegenseitig an – zum Gewinn der Ausstellungsbesucher. Damit möge auch die Verankerung von Geyso 20 in der hiesigen Kulturlandschaft noch gewichtiger und selbstverständlicher werden, als sie es nach ihrer 25-jährigen Tätigkeit ohnehin schon ist. Und die Begeisterung über die Entdeckung dieses Kunstschatzes, der Sammlung Torsten Uhde, wird sowieso groß sein.
Es seien noch drei kurze Exkurse angefügt:
In Berlin wird derzeit die Ausstellung „Unvergleichlich: Kunst aus Afrika im Bode Museum“ gezeigt. Durch die Gegenüberstellung von afrikanischen Skulpturen und christlichen Bildwerken des Mittelalters werden Ähnlichkeiten und Zusammenhänge thematisiert und Unterschiede deutlich gemacht. Dabei fallen vor allem Übereinstimmungen in der Funktion der Kunstwerke auf. So dienten z. B. sogenannte Kraftfiguren aus dem Kongo zum Schutz ganzer Dörfer und Gemeinschaften, ähnlich wie ihn die gotische Darstellung einer Schutzmantelmadonna bieten sollte. Es wird aber auch unsere unterschiedliche Wahrnehmung und Einordnung dieser Objekte thematisiert als einerseits (immer noch) ethnologische Gegenstände aus Afrika und andererseits als Kunstwerke des christlichen Mittelalters (die ursprünglich auch nicht als Kunst, sondern für den Kult gedacht waren).
Torsten Uhde geht in seiner Präsentation darüber hinaus, indem er alle Artefakte gleichwertig als Kunst nebeneinander stellt. Er steht damit in der Tradition von Avantgarde-Künstlern, die vor gut 100 Jahren an der Schwelle zur Moderne afrikanische Skulpturen, die „Bildnerei der Geisteskranken“ (so der Titel von Prinzhorns berühmtem Buch) und Kinderzeichnungen für sich als Vorbilder entdeckten, weil sie bei diesen ursprünglichen, authentischen Kunstwerken den Quell der Kreativität und Inspiration vermuteten. Damals waren diese Kunstformen Künstler-Kunst, also Kunst, für die sich Künstler interessierten, lange bevor dies auch ein breites Publikum tat.
Außerdem noch einige Bemerkungen zur Außenseiterkunst:
Deren Werke erstaunen durch einen besonderen Humor, visionären Gehalt wie bestürzenden Inhalt, durch außerordentliche Kompositionen, berückende Eleganz und Ästhetik, Monumentalität wie Zartheit und einen unglaublichen Einfallsreichtum, dabei sind sie oftmals aus einer schwierigen oder auch elenden Lebenssituation heraus entstanden. Umso wichtiger ist es, ihren Entstehungshintergrund zu beachten, nicht, um zu einer Mythenbildung beizutragen, sondern um das Schaffen der Künstler*innen zu würdigen - so etwa formulierte es Monika Jagdfeld aus dem Lagerhaus St. Gallen.
Dieser Hinweis gilt im Zusammenhang mit der Ausstellung Uhde weniger für den Ort und die Arbeit des Ateliers Geyso 20, die von Anfang an unter den geschützten, wenn man so will, privilegierten Bedingungen eines Offenen Ateliers stattfindet; dieser Hinweis auf die klassische Art brut erinnert vielmehr daran, dass viele deren Werke, die auch in der Sammlung Uhde vertreten sind, unter schwierigen inneren und äußeren Bedingungen entstanden sind: in Isolation, seelischer Bedrängnis und Not der Künstler. Das sollten wir auch nach der Transformation solcher Artefakte in Kunst nicht vergessen.
Außerdem hat Thomas Röske, Leiter der Sammlung Prinzhorn in Heidelberg, im Zusammenhang mit Inklusion auf die spezifische Qualität dieser Arbeiten hingewiesen, indem er schreibt:
„Inklusion von Outsider Art in die Kunst (kann) nicht Ununterscheidbarkeit im Sinne einer Anpassung bedeuten. Vielmehr sollten bei einer echten Inklusion die Eigenheiten der Outsider Art im Blick behalten und als Bereicherung des Ganzen begriffen werden. Denn es gibt Unterschiede zur akademischen Kunst, auch wenn sie sich nicht überall finden und Übergänge oftmals fließend sind. Werke akademischer Künstler entstehen für gewöhnlich nach Auseinandersetzung mit Traditionen und einer längeren eigenen Entwicklung. Gerade in der zeitgenössischen Kunst ist eine mannigfaltige, ablesbare Vernetzung der Werke gewünscht, die einen hohen Reflexionsgrad von Werk und Urheber nachweisen soll. Viele Outsider-Künstler kennen solche strategischen Entscheidungen und Vermeidungsregeln nicht. Sie arbeiten einfach drauflos, weil sie bestimmte Inhalte dazu drängen… Gerade diese Art des Schaffens führt immer wieder zu großer Originalität und eindringlicher Wirkung der Werke“.
Und schließlich noch ein Exkurs zu der Frage: Warum überhaupt sammeln?
Die berühmteste Ideensammlung über das Sammeln stammt vom Sammler Goethe, der 1799 acht Briefe schrieb: „Der Sammler und die Seinigen“. Das Nachlesen lohnt sich!
2009 schrieben Museumsleute: „Zum Lob der Sammler – Die Staatlichen Museen zu Berlin und ihre Sammler“ und wiesen darauf hin, wie die Museumsmacher auf solche Menschen und deren Privatinitiativen angewiesen sind.
Neben diesen Hinweisen auf klassisches und großbürgerliches Sammeln will ich noch eine allgemeine Sammlung von Einfällen zum Thema anführen, um die Dimensionen anzudeuten, in die die wundersame Tätigkeit des Sammelns hineinspielt – und Herr Uhde kann sich aussuchen, mit was er sich am ehesten identifizieren mag:
Beim Thema Sammeln wird häufig gesprochen
• von Sammelwahn und Sammelwunder,
• vom Sammeln als einer unbändigen Leidenschaft,
• davon, dass Sammelobjekte als Selbstobjekte zur narzisstischen Stabilisierung dienen können, oder einfacher ausgedrückt: Sammeln als Strategie gegen die Depression;
neutraler formuliert:
• Sammeln als eine Funktion und eine Erweiterung des Ichs,
• Sammeln als Form eines Selbstportraits;
oder als Ganzes betrachtet:
• Sammlungen als Speicher von Lebenskraft oder
• Sammlungen als arkadische Orte der Ambivalenzfreiheit - das klingt am schönsten – und einen solchen möchte man doch jedem Menschen wünschen!
Als letztes frage ich Herrn Uhde: Warum sammeln Sie ausgerechnet Kunst (und nicht Autos, Briefmarken oder Münzen)? Und ich könnte mir darauf etwa folgende Antworten vorstellen:
• Weil mir Kunst gefällt! Weil ich mich damit umgeben will! Weil ich ohne sie nicht leben kann!
• Als Sammler von Kunst bin ich nicht nur Rezipient, sondern mehr als bei anderen Sammelobjekten auch aktiver Konsument. Kunst regt mich an!
Und mit Blick auf die Außenseiterkunst, die in der Sammlung von Herrn Uhde einen gewichtigen Teil ausmacht, könnte er noch hinzufügen:
• Weil mich der Künstler hinter dem Werk auch als Mensch interessiert; ich kann über die Kunst an dessen Leben und Arbeiten teilhaben
• Ich zeige Wertschätzung für die Künstler, wenn ich ihre Kunst sammle, ich habe Hochachtung vor deren innerem Kampf, ihren Auseinandersetzungen, die sie in ihrer Kunst mit sich und der Welt führen.
• Sammeln wird so zu einer Form der Anerkennung des Außenseiters, die diesem sonst häufig verwehrt bleibt.
• Vor allem aber: Die Kunst gefällt mir! Ich umgebe mich gerne mit ihr! Sie ist etwas Besonderes!
• Aber auch bei der Art brut bleibt das erste Kriterium die Qualität der Kunst! Die eigene Handschrift des Künstlers! Eine „primäre Obsession“ (Szeemann) muss in den Werken spürbar sein! Dies ist der Kernpunkt meiner Sammelleidenschaft!
Genug vom Sammeln, schauen Sie sich das Ergebnis an, wir danken Frau Roskamp und der Lebenshilfe als Gastgeber und natürlich Herrn Uhde, dass er uns an dem wunderbaren Ergebnis seiner Sammelleidenschaft teilhaben lässt.
Wolfram Voigtländer, Berlin, im März 2018